Nein sagen

Wer verspielt die Gunst?

Boutique -Nein sagen„Könntest du heute ausnahmsweise eine Stunde länger bleiben und nach Ladenschluss absperren, Corinna? Du würdest mir damit wahnsinnig helfen.“ Flehentlich blickte Nathalie, ein Wirbelwind in Blond mit großen blauen Kulleraugen zu ihrer Kollegin Corinna, mit der sie sich an diesem Freitag die Nachmittagsschicht in der Boutique für edle Damenmode teilte. Ausnahmsweise ist gut gesagt, dachte Corinna, das waren in den letzten drei Wochen fünf Ausnahmen. Laut sagte sie: „Eigentlich wollte ich nach der Arbeit noch einkaufen. In meinem Kühlschrank herrscht Ebbe und wenn ich so spät loskomme, hat mein Bioladen schon geschlossen.“ Da sich Nathalie bei Corinnas Worten gerade nach vorne gebeugt hatte, um eine Bluse auf einen Bügel zu hängen, konnte sie es sich erlauben, die Augen bei dem Wort „Bioladen“ zu rollen, ohne dass Corinna es sah. Das Wort „eigentlich“ in Corinnas Satz signalisierte Nathalie hingegen, dass Corinna sich vermutlich umstimmen ließ und, da gerade eine Kundin hereinkam, beschloss sie, das Gespräch später fortzusetzen.Nathalie - Nein sagen

Nathalie fand, dass Corinna die ideale Kollegin war. Sie sprang jedes Mal ein, wenn Nathalie unter Zeitdruck stand. Dafür war ihr Nathalie sehr dankbar. Da Corinna drei jüngere Geschwister hatte, war sie es gewohnt, die Verantwortung zu tragen und andere zu unterstützen. Obwohl sie nur ein Jahre älter war als die gertenschlanke Nathalie, wirkte Corinna mit ihren halblangen dunklen Locken und der leicht fülligen Figur deutlich reifer. Sie arbeitete gerne in der Boutique und schätzte das harmonische Arbeitsklima. Bisher hatte es ihr nie etwas ausgemacht, für Nathalie einzuspringen, aber langsam nahm das überhand. Mittlerweile hatte sie das Gefühl,  dass Nathalie sich auf ihre Kosten ein bequemes Leben machte.
Nachdem die Kundin das Geschäft mit einem neuen Cardigan verlassen hatte, nahm Nathalie den Faden wieder auf. „Bitte, Corinna, es ist echt wichtig, dass ich heute frühzeitig gehen kann. Ich bleibe dafür nächste Woche länger!“
Nach einigen weiteren intensiven Bitten ließ sich Corinna erweichen und blieb bis nach Ladenschluss. Aber sie ärgerte sich über sich selbst und ihre Inkonsequenz. Natürlich hatte der Bioladen schon zu, als sie aus der S-Bahn stieg. Sie konnte einfach nicht Nein sagen, und das hatte sie jetzt davon.

Corinna - nein sagenSpäter am Abend traf sie sich mit Iris, ihrer besten Freundin im Oma Plüsch, ihrer Stammkneipe. Sie berichtete Iris von Nathalie. Diese schüttelte den Kopf über Corinnas Gutmütigkeit. „Warum sagst du nicht einfach Nein?“
„Das ist leicht gesagt. Aber ich will sie nicht vor den Kopf stoßen. Sie hat nicht alles so im Griff wie ich und sie ist immer so dankbar, wenn ich ihr helfe. Sie schätzt mich sehr, das merke ich und ich will es mir nicht mit ihr verscherzen.“
„Glaubst du im Ernst, sie mag dich nicht mehr, wenn du nicht für sie einspringst? Corinna, was ist denn das für eine Logik? Du musst doch nicht ihre Arbeit machen, damit sie dich mag!“
Corinna zog nachdenklich am Strohhalm ihres Mojitos und ließ sich Iris Ansicht durch den Kopf gehen. Da war was dran, stellte sie fest. So hatte sie das noch nie gesehen.

Nachdem ihr das Thema die halbe Nacht durch den Kopf gegangen warst, nahm Corinna ihren ganzen Mut zusammen und sprach Nathalie am nächsten Morgen darauf an. „Also wegen gestern, Nathalie. Ich hoffe, du hältst mich nicht für herzlos und magst mich trotzdem noch, aber ich werde in Zukunft nicht mehr für dich einspringen. Deine Zeiteinteilung ist dein Problem, nicht meins.“
Nathalie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Corinna hatte ja Recht. Insgeheim war sie erleichtert, dass Corinna ihr keine großen Vorwürfe machte. Hände geben - Nein sagenSie hatte schon befürchtet, dass Corinna richtig sauer wäre, weil sie sie in letzter Zeit so oft gebeten hatte, länger zu bleiben. Gestern hatte sie selbst gemerkt, dass sie den Bogen überspannt hatte. Sie musste endlich lernen, ihre Zeit besser einzuteilen. Denn die gute Beziehung zu Corinna wollte sie auf keinen Fall ruinieren. 
Sie entschuldigte sich wortreich für ihr Verhalten, bedankte sich noch einmal herzlich für Corinnas Einspringen und versprach in den höchsten Tönen, in Zukunft ihre Arbeit nicht mehr bei Corinna abzuladen.
Corinna war skeptisch. Ob das wirklich funktionierte, würde sich zeigen, aber es war immerhin ein Anfang, war ihr letzter Gedanke, bevor sie sich der Kundin widmete, die gerade den Laden betrat.

Kurzanalyse: Jede Frauen befürchtet, dass die andere sie nicht mehr mag. Ursache ist die private Logik von Corinna und Nathalie, denn jede glaubt zu wissen, was die andere denkt und damit schätzen beide die Reaktion der anderen falsch ein.

Wie fühlt sich Corinna: Sie will, dass Nathalie sie weiterhin gerne hat. Sie befürchtet, wenn sie Nein sagt, sinkt sie in Nathalies Gunst. Über Nathalies Reaktion, sich zu entschuldigen, und das Versprechen, sich zu bessern, ist sie erleichtert.

Wie fühlt sich Nathalie: Sie befürchtet, dass Corinna sie nicht mehr mag, weil sie sie so ausgenutzt hat. Sie will es wieder gutmachen und ist erleichtert, als sie erkennt, dass sie Corinnas Gunst noch nicht verspielt hat.