Fotoshooting auf Barbados
Lisa war sauer. Wieder einmal hatte sich Tobias durchgesetzt und sie hatte das Nachsehen. Die beiden arbeiteten in der Marketingabteilung eines großen Sportartikelherstellers und gerade hatte Hans, der Chef, bestimmt, dass Tobias die Betreuung der neuen Werbekampagne für die Sommerdamenmode übernehemn würde. Tobias, optisch nicht gerade ein Highlight mit seinem schütteren blonden Haar und seiner leicht schwammigen Figur, war in Lisas Augen viel weniger geeignet für diesen Job als sie selbst. Und das bezog sie rein auf seine fachlichen Stärken. Über seine körperlichen Unzulänglichkeiten sah sie dabei großzügig hinweg.
Am Abend traf sie sich mit ihrer besten Freundin Janina in ihrer Stammkneipe und beschwerte sich bitter. „Ich verstehe das nicht. Tobias hat doch von Damenmode kaum Ahnung. Weshalb hat Hans mich nicht gewählt? Er muss doch wissen, dass ich die Kampagne viel besser betreuen kann als Tobias.“
„Worum geht es denn überhaupt bei dieser Betreuung“, wollte Janina wissen. Lisa blickte von ihrem Lillet Wild Berry auf, schüttelte ihre kastanienbraune Mähne nach hinten und richtete ihre großen bernsteinfarbenen Augen auf Janina. „Als Erstes findet ein Fotoshooting für Bademoden auf Barbados statt. Danach geht es dann um die Zusammenarbeit mit der Werbeagentur und so weiter. Am meisten ärgert mich, dass Tobias mit nach Barbados darf. Außerdem geht es um Damenmode, das ist nun wirklich nicht sein Ressort." Zornig schwenkte sie ihren Strohhalm durch die Luft und verteilte ein paar Tropfen auf dem Tisch, ohne es zu bemerken. „Er hat eine ziemlich große Klappe und betont immer, was er alles kann und wie er sich einsetzt, dabei ist Organisation nicht gerade seine Stärke. Und sehr zuverlässig ist er auch nicht. Aber er vermittelt dem Chef den Eindruck, dass er stets alles in Griff hat.“
„Und wie ist das bei dir? Welchen Eindruck vermittelst du deinem Chef?“ Als Abteilungsleiterin eines Möbelhauses führte Janina ein zehnköpfiges Team und kannte diese Art von Problemen. Mit ihrem rotblonden Kurzhaarschnitt, ihren Sommersprossen und ihrer kleinen Stupsnase wirkte sie auf den ersten Blick nicht gerade wie eine Führungskraft, wurde von Ihren Leuten jedoch sehr geschätzt.
„Ich übertreibe ganz sicher nicht. Im Gegenteil, ich bin eher zurückhaltend. Wenn ich etwas nicht gut kann oder mir unsicher bin, dann sage ich das ehrlich.“
„Sag mal, Lisa, kann es sein, dass du öfter über deine Schwächen als über deine Stärken sprichst?“
Lisas Wangen nahmen eine rötliche Farbe an. „Ertappt“, dachte Janina.
Lisa überlegte und verteidigte sich. „Ja, aber wenn ich dauernd über meine Stärken spreche, hält mich jeder für einen Angeber. Das will ich nicht. Ich finde außerdem, dass es mich menschlicher macht, wenn ich über meine Schwächen spreche. Dann fühlen sich die anderen nicht von mir bedroht.“
Janina nickte lächelnd. „Das ist eine typisch weibliche Reaktion.“
Lisa zog eine Grimasse, doch Janina ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Aber damit betonst du halt auch deine Schwächen und dieser Eindruck bleibt bei den anderen hängen. Auch bei deinem Chef. Und als Ergebnis fährt jetzt Tobias nach Barbados.“
„Super!“, schmollte Lisa. Sie war zwar an Janinas burschikose, direkte Art schon seit der Schulzeit gewöhnt, aber an dieser kurzen Beweisführung hatte sie dennoch zu knabbern. Es stimmte schon, Hans kannte vermutlich ihre Schwächen besser als ihre Stärken. Aber er musste doch sehen, dass ihre Projekte hervorragend liefen, das brauchte sie doch nicht auch noch extra zu betonen. Als sie diese Ansicht Janina gegenüber äußerte, widersprach diese vehement.
„Hans hat ein großes Team. Fast zwanzig Leute, wenn ich mich recht erinnere. Er kann die einzelnen Personen vermutlich im Großen und Ganzen gut beurteilen, aber wenn du aus der Gruppe herausragen willst, musst du, bildlich gesprochen, hochspringen oder dich auf einen Stuhl stellen. Mit Zurückhaltung und Bescheidenheit gewinnst du keinen Blumentopf.“
Lisa wünschte, sie hätte Janina nichts erzählt. Die Schlussfolgerung war nicht gerade angenehm. Doch Janina hatte recht. Wenn sie vorwärts kommen wollte, musste sie ihr Verhalten in der Firma ändern. Verdrießlich kaute sie auf iohrem Strohhlam. „Und wie soll ich das machen?“
Janina ging auf Lisas Ton nicht ein, sondern bliebt freundlich. „Fang in kleinen Schritten an. Zunächst klapp den Mund zu, wenn du wieder über eine deiner Schwächen sprechen willst. Behalte sie für dich. Das ist ein erster ganz wichtiger Schritt, dass du dich nicht selbst klein machst. Dann überlege dir, welche Stärken du hast und wie du sie in ein Gespräch ganz nebenbei einfließen lassen kannst. Du musst nicht angeben damit. Bleib ganz sachlich. Am besten du schreibst dir auf, welche Stärken du hast und zu jeder Stärke dann zwei, drei Beispiele, woran man sie erkennen kann. Du kannst dir auch kleine Anekdoten dazu überlegen, die du dann erzählen kannst. So bringst du deine Stärken ganz unauffällig ins Gespräch.“
Lisa war etwas skeptisch, ob das funktionieren würde, aber sie beschloss, Janinas Ratschlag bei nächster Gelegenheit auszuprobieren, denn beim nächsten Fotoshooting auf einer Trauminsel wollte sie unbedingt dabei sein.
Frauen kommunizieren Ihre Schwächen, nicht ihre Stärken
Frauen sprechen rund 20-mal häufiger über ihre vermeintlichen Unzulänglichkeiten als über ihre Stärken und Erfolge, wie Studien zeigen. So verkaufen sie sich unter Wert. Denn die Botschaft "Ich kann das nicht" wirkt nicht karrierefördernd. aus: Women Matter, McKinseyCompany